Rilke

Jeder Tag ist Silvester…

… oder sollte es sein, wenn es darum geht, dass man sich der guten Vorsätze für das neue Jahr, die ja doch nicht umgesetzt werden, nicht schämen will. Sich täglich etwas vorzunehmen, dass am nächsten Tag nicht umgesetzt werden darf, weil das Programm ja die nächste Vorsatzbildung fordert, erinnert mich stark an einen Chefarzt, dessen Visiten während meiner klinischen Jahre oft eine Offenbarung waren. So pflegte er gerne dem Patienten, der vollmundig versprach, dass er das Rauchen ganz leicht einstellen könne, zu antworten: „Da geht es dir wie mir, mein Lieber, mache ich auch drei mal am Tag.“

Die Hirnforschung weiß eh längst, dass Änderungen für das neuronale Getue nur stressende Mehrarbeit bedeutet und deswegen das Beibehalten lieb gewordener Routinen mit der Ausschüttung körpereigener Belohnungsstoffe quittiert.
Das soll nun niemanden abhalten, sich gerne auch wieder zu diesem Jahreswechsel der guten Gewohnheit zuzuwenden, alte Gewohnheiten ablegen zu wollen. Wie eben gerade erwähnt, liebt unser Gehirn alte Gewohnheiten, „weil sie sehr viel weniger Stoffwechselenergie und sonstigen neuronalen Aufwand benötigen“ (Gerhard Roth).

Spannender für mich ist die Frage nach der Motivation: warum soll sich was/ich mich ändern? Kommt dieser Wunsch, die Absicht aus mir heraus? Oder bin ich nur mal wieder fremdbestimmt vom letzten Hype, dem neuesten „In“, fremd verantwortet vom flehend Blick eines Mitmenschen, der seine eigenen Unzulänglichkeiten an mich zu delegieren versucht?

Warum will ich überhaupt etwas für eine Zukunft, statt es hier und jetzt zu leben. Das konsequente, achtsame Eintauchen in den Daseinsfluss bewahrt mich vor jeglicher Vorsatzbildung.

Schon klar – damit verbieten sich eigentlich die klassischen Guten Wünsche für das Neue Jahr, aber das Gehirn …siehe oben

Alles Leben

Man muss den Dingen die eigene, stille, ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt oder
beschleunigt werden kann;
alles ist Austragen – und dann Gebären.

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und
getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte.
Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit.

Man muss Geduld haben, gegen das Ungelöste im Herzen und
versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben und wie Bücher,
die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken,
eines fremden Tages in die Antwort hinein.

Rainer Maria Rilke