Archive for März, 2013

Frohe Ostern

Ich weiß, keiner hat Lust Eier zu färben bei einem solchen Osterwetter, und weiße Eier sieht man im Schnee so schlecht. Dennoch, jedem Tag gilt es etwas abzugewinnen, und Ostern ist für mich – kindliche Prägung und spätere eigene Erkenntnis – ein Synonym für Neubeginn.

Zeit also, Danke für das Alte zu sagen, damit das Neue auch gut beginnen kann. Hans Magnus Enzensberger geht mir dabei zur Hand:

 

Empfänger unbekannt – Retour à l’expéditeur

Vielen Dank für die Wolken.
Vielen Dank für das Wohltemperierte Klavier
und, warum nicht, für die warmen Winterstiefel.
Vielen Dank für mein sonderbares Gehirn
und für allerhand andre verborgne Organe,
für die Luft, und natürlich für den Bordeaux.
Herzlichen Dank dafür, daß mir das Feuerzeug nicht ausgeht,
und die Begierde, und das Bedauern, das inständige Bedauern.
Vielen Dank für die vier Jahreszeiten,
für die Zahl e und für das Koffein,
und natürlich für die Erdbeeren auf dem Teller,
gemalt von Chardin, sowie für den Schlaf,
für den Schlaf ganz besonders,
und, damit ich es nicht vergesse,
für den Anfang und das Ende
und die paar Minuten dazwischen
inständigen Dank,
meinetwegen für die Wühlmäuse draußen im Garten auch.

Hans Magnus Enzensberger

Wie konstruiert man eine passende Wirklichkeit?

Der geniale Mediziner und Begründer der psychosomatischen Medizin Thure von Uexküll, mit dem ich die Ehre habe den 15. März als Geburtsdatum zu teilen, hatte uns das 2003 im Alter von 95 Jahren verraten:

„Um 95 Jahre alt zu werden, muss man sich als Leiter eine Wirklichkeit konstruieren, die 95 Jahre lang passt.

Es ist kein Geheimnis, dass dafür Jogging ebenso wenig funktioniert wie Walking, der Freizeitsport für gesetzterer Jahrgänge. Auch der Rat, zur Vermeidung des vorzeitigen Alzheimers die trägen Hirnzellen mit Skat-Spielen und dem Raten von Kreuzworträtseln zu trainieren, ist nur in Grenzen hilfreich.

Stattdessen ist zweierlei nötig: einmal seine individuelle Wirklichkeit so zu konstruieren, dass sie Stress und Ärger in Grenzen halten kann – und zweitens – nie zu versuchen, die eigene Wirklichkeit anderen aufzudrängen oder zu einer kollektiven Wirklichkeit aufzublähen.

Die Vorstellung, Menschen könnten sich dauerhaft auf eine kollektive Wirklichkeit einigen, beruht auf Realitätsverkennung: Sie ignoriert die Tatsache, dass wir Universitäten brauchen, um an der Vorstellung einer für alle verbindlichen oder „objektiven“ Wirklichkeit zu basteln, (dabei aber ständig unvereinbare Wirklichkeiten produzieren), dass politische Parteien nötig sind, um gemeinsame Wirklichkeiten auszuhandeln und dass Armeen von Diplomaten versuchen müssen, die Völker daran zu hindern, sich ihrer verschiedenen Wirklichkeiten wegen umzubringen.

Angesichts dieser Erfahrungen sind wir in wechselnden Gruppen der Frage nachgegangen, wie Wirklichkeiten biologisch, psychologisch und sozial konstruiert werden. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind in der sechsten Auflage unseres „Schwerbuchs“ (Gewicht etwa 2,5 kg) auf 1564 Seiten zusammengetragen.

Darin wird die These vertreten, dass „die Seele“ in dem Gehirnabschnitt sitzt, der für den Körper und dessen Inhaber eine Wirklichkeit konstruiert, in der er sich orientieren und seine Bedürfnisse einigermaßen befriedigen kann, und dass sie (die Seele) dafür die Zeichen benutzt, die unsere Augen und Ohren empfangen.

Das klingt sehr abgehoben und theoretisch. Mit Recht werdet Ihr jetzt fragen: „Wie macht die Seele das?“ Wie konstruiert sie aus den chaotischen, unhygienischen und oft genug lebensgefährlichen Ereignissen unserer Welt eine Wirklichkeit, in der wir überleben, und 95 Jahre alt werden können?

Glücklicherweise hat ein genialer Dichter dieses Rezept verraten: Er lässt seinen Helden Palmström in einer Situation konkretester Gefahr für Leib und Leben eine Wirklichkeit konstruieren, in der er – ohne Gefahr für ein posttraumatisches Belastungs-Syndrom – weiterleben kann:“

Palmström, etwas schon in Jahren
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge überfahren.

Wie war (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
möglich, wie dies Unglück ja -:
dass es überhaupt geschah?

Ist die Staatskunst anzuklagen
in Bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Drift?

Oder war vielmehr verboten
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln, – kurz und schlicht:
Durfte hier der Kutscher nicht -?

Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im Klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!

Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil – so schließt er messerscharf;
nicht sein kann, was nicht sein darf.

30 Jahre sind genug

Brief an meine Patienten

In diesem Jahr werden es dreißig Jahre, in denen ich in meiner Praxis am Marienplatz gearbeitet habe. Zuvor knapp neun Jahre in der Klinik und, wenn es mir geschenkt wird, liegen noch etliche Jahre (sechs Jahre plus habe ich mir vorgenommen) in meiner neuen Praxis in Borchen vor mir.
Dennoch, dreißig Jahre internistische Medizin sind genug und ich gehe erleichtert in einen neuen Abschnitt, in dem ich nur noch als Psychotherapeut und in der psychosomatischen Medizin tätig sein werde.

Erleichtert deswegen, weil ich in Frau Dr. Mahrafzoon Moshref zum  2. April 2013 eine Nachfolgerin gefunden habe, der ich medizinisch und menschlich völlig vertraue. Als Allgemeinmedizinerin wird sie die Praxis hausärztlich so weiterführen können, wie Sie, liebe Patienten, es gewohnt sind. Als Gynäkologin wird sie das Leistungsspektrum hinsichtlich der spezifischen Vorsorgeuntersuchungen entsprechend erweitern.

 

moshref

Hier ein kurzer Auszug aus ihrer Vita: Grundschule und Gymnasium in Kunduz. Abitur 1979. Bis 1985 Medizinstudium in Kabul. Bis 1990 Fachausbildung am Malali-Krankenhaus in Kabul zum Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Arbeit in eigener Praxis in Kunduz bis 1995. Weiteres Studium und ärztliche Tätigkeit an verschieden Kliniken in Wien. Zuletzt tätig als Assistenzärztin in den Krankenhäusern Brilon und Salzkotten.

 

Besonders glücklich bin ich darüber, dass Frau Dr. Moshref meine Mitarbeiterinnen Frau Lena Ahlers und Frau Evgenia Fedorow, die Ihnen seit 10 bzw. 5 Jahren vertraut sind, weiter beschäftigen wird. Viele von Ihnen schätzen ihre Freundlichkeit, Fröhlichkeit und ihre Sachkompetenz. Nicht wenige haben mir versichert, dass vertraute Gesichter und Räume den Übergang deutlich erleichtern würden. Sic! So kann ich denn nun gehen. Langsam, denn bis zur Jahresmitte werde ich noch mithelfen, den Übergang fließend zu gestalten. Vor allem habe ich mir vorgenommen, jeden von Ihnen, liebe Patienten, meiner Nachfolgerin vorzustellen. Übergabe nannten wir das in klinischen Tagen.

Bleibt nur noch ein herzliches Dankeschön zu sagen. Danke für Ihr Vertrauen, Danke für Ihre Treue, Danke auch für das Verständnis, dass Doktors auch nur Menschen sind.

Noch viele gesunde Jahre wünsche ich Ihnen. Ach ja, und tun Sie was dafür!

Ihr alter Doktor