Wirklichkeit

Wie konstruiert man eine passende Wirklichkeit?

Der geniale Mediziner und Begründer der psychosomatischen Medizin Thure von Uexküll, mit dem ich die Ehre habe den 15. März als Geburtsdatum zu teilen, hatte uns das 2003 im Alter von 95 Jahren verraten:

„Um 95 Jahre alt zu werden, muss man sich als Leiter eine Wirklichkeit konstruieren, die 95 Jahre lang passt.

Es ist kein Geheimnis, dass dafür Jogging ebenso wenig funktioniert wie Walking, der Freizeitsport für gesetzterer Jahrgänge. Auch der Rat, zur Vermeidung des vorzeitigen Alzheimers die trägen Hirnzellen mit Skat-Spielen und dem Raten von Kreuzworträtseln zu trainieren, ist nur in Grenzen hilfreich.

Stattdessen ist zweierlei nötig: einmal seine individuelle Wirklichkeit so zu konstruieren, dass sie Stress und Ärger in Grenzen halten kann – und zweitens – nie zu versuchen, die eigene Wirklichkeit anderen aufzudrängen oder zu einer kollektiven Wirklichkeit aufzublähen.

Die Vorstellung, Menschen könnten sich dauerhaft auf eine kollektive Wirklichkeit einigen, beruht auf Realitätsverkennung: Sie ignoriert die Tatsache, dass wir Universitäten brauchen, um an der Vorstellung einer für alle verbindlichen oder „objektiven“ Wirklichkeit zu basteln, (dabei aber ständig unvereinbare Wirklichkeiten produzieren), dass politische Parteien nötig sind, um gemeinsame Wirklichkeiten auszuhandeln und dass Armeen von Diplomaten versuchen müssen, die Völker daran zu hindern, sich ihrer verschiedenen Wirklichkeiten wegen umzubringen.

Angesichts dieser Erfahrungen sind wir in wechselnden Gruppen der Frage nachgegangen, wie Wirklichkeiten biologisch, psychologisch und sozial konstruiert werden. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind in der sechsten Auflage unseres „Schwerbuchs“ (Gewicht etwa 2,5 kg) auf 1564 Seiten zusammengetragen.

Darin wird die These vertreten, dass „die Seele“ in dem Gehirnabschnitt sitzt, der für den Körper und dessen Inhaber eine Wirklichkeit konstruiert, in der er sich orientieren und seine Bedürfnisse einigermaßen befriedigen kann, und dass sie (die Seele) dafür die Zeichen benutzt, die unsere Augen und Ohren empfangen.

Das klingt sehr abgehoben und theoretisch. Mit Recht werdet Ihr jetzt fragen: „Wie macht die Seele das?“ Wie konstruiert sie aus den chaotischen, unhygienischen und oft genug lebensgefährlichen Ereignissen unserer Welt eine Wirklichkeit, in der wir überleben, und 95 Jahre alt werden können?

Glücklicherweise hat ein genialer Dichter dieses Rezept verraten: Er lässt seinen Helden Palmström in einer Situation konkretester Gefahr für Leib und Leben eine Wirklichkeit konstruieren, in der er – ohne Gefahr für ein posttraumatisches Belastungs-Syndrom – weiterleben kann:“

Palmström, etwas schon in Jahren
wird an einer Straßenbeuge
und von einem Kraftfahrzeuge überfahren.

Wie war (spricht er, sich erhebend
und entschlossen weiterlebend)
möglich, wie dies Unglück ja -:
dass es überhaupt geschah?

Ist die Staatskunst anzuklagen
in Bezug auf Kraftfahrwagen?
Gab die Polizeivorschrift
hier dem Fahrer freie Drift?

Oder war vielmehr verboten
hier Lebendige zu Toten
umzuwandeln, – kurz und schlicht:
Durfte hier der Kutscher nicht -?

Eingehüllt in feuchte Tücher,
prüft er die Gesetzesbücher
und ist alsobald im Klaren:
Wagen durften dort nicht fahren!

Und er kommt zu dem Ergebnis:
Nur ein Traum war das Erlebnis.
Weil – so schließt er messerscharf;
nicht sein kann, was nicht sein darf.