Archive for April, 2013

Leicht ist richtig

Eine Frau ruft an. Sie ist aufgebracht. Ihre Stimme kippt zwischen Empörung, Verzweiflung und Sorge, die Worte kommen schnell und der Atem nicht nach. Ihr Manne müsse umgehend einen Termin bekommen, er habe einen Burn Out, alles werde zunichte gehen. Auf meine Frage, ob ihr Mann mich selber anrufen könne, geht sie nicht ein, nimmt die Frage wohl gar nicht wahr.

Ich werde darüber nachdenken müssen, warum ich dem Terminwunsch nachgegeben habe, ahne aber, dass der Mann, wenn er denn überhaupt erscheint, in Begleitung seiner Frau kommen wird.

Sie kommen beide. Ich begrüße beide, bitte ihn zu mir. Sie macht keine Anstalten mitzukommen, was mich kurz verblüfft.

Der Mann, Anfang 40, berichtet, das in den letzten drei Jahren die Ehe „ohne Liebe“ sei, weil Geben und Nehmen nach seinen Aussagen wohl alles andere als in der Balance waren. Er gehe durchaus in seiner Arbeit auf, fühle sich in ihr bestätigt. Gestern Abend habe er seiner Frau gegenüber Worte gefunden, in denen er sich erklären konnte. Er wisse zwar noch nicht konkret, was zu tun sei, spüre aber deutlich, dass eine Antwort auf seine noch undeutlichen Fragen nur zu ihm komme, wenn er eine Zeit lang Wege allein gehe. Seitdem sei ihm leichter.

Wie schon am Telefon vermutet: er ist nicht der Bedürftige. Wir verabschieden uns und ich wünsche ihm eine gute Zeit, in der er neugierig und achtsam ins Leben schaut. Er lächelt und fragt, ob ich mir einen Moment Zeit für seine Frau nehmen könne. Sie sei nach dem Gespräch am Vorabend nachdenklich gewesen.

Ich bitte sie zu mir. Schnell wird klar, dass sie – gleicher Jahrgang wie ihr Mann – die Lebensmitte anders erreicht hat. Während er in der beruflichen Aufgabe jung geblieben sei, habe sie in der „Brutpflege“ übersehen, dass die Kinder gerade dabei seien, dass Haus zu verlassen. In ihr seien Selbstzweifel, das Gefühl nicht mehr attraktiv zu sein, eine unerklärliches Gefühl von Eifersucht. Das Gespräch mit ihrem Mann, habe ihr bewusst gemacht, dass sie schon länger das Gefühl  habe, dass auch in ihr etwas eine Entscheidung verlange. Sie habe solche Gedanken immer schnell weg geschoben, weil alle denkbaren Möglichkeiten „eigentlich undenkbar“ seien. Sie ist sehr damit einverstanden, als ich Sie frage, ob es ihr recht sei, wenn ich sie auf dem Weg der Entscheidungsfindung begleite.

Wo immer auch sie gerade stehen, liebe Leserin, lieber Leser, Auf die Frage „Welche Entscheidung stärkt Sie, welche macht Sie schwächer“, gibt es wohl nur eine Antwort: Entscheidungen, bei denen wir spüren, dass sie uns Kraft geben, sind stimmig.

Leicht ist richtig.

Hanswerner Herber

Neuen Verunsicherungen begegnen

Die Menschen sind heute beunruhigt. Sozioökonomische und ökologische Verunsicherungen, verbunden mit einer tiefen, in vielen Lebensbereichen sich zeigenden Vertrauenskrise, schüren Ängste und das Gefühl einer größeren Verletzlichkeit. Die gefühlte Wirklichkeit: Die Welt ist ein gefährlicherer Ort geworden. In einer zunehmend enttraditionalisierten Gesellschaft sind anstelle von engen, übersichtlichen Bindungen anonyme, hochkomplexe technische und administrative Infrastrukturen getreten, die zum Teil nicht mehr verstanden werden, vor allem aber auch nicht kontrolliert werden können. Der einzelne Mensch fühlt sich ihnen gegenüber hilflos. Vertrauen wäre gefragt, aber woher nehmen? In Verbindung mit der Beschleunigung, mit der Erfahrung, dass fast nichts mehr „dauert“, wird zudem ein wesentliches Fundament des Umgangs mit Ängsten, die Bindung zum Mitmenschen, in Frage gestellt. Dennoch: trotz Vertrauenskrise, trotz wirtschaftlicher, sozialer und politischer Unübersichtlichkeit leben Menschen in einer Normalität. Noch immer sind sie der Ansicht, Leben gestalten zu können. Die Frage aus der Sicht der Psychotherapie: Wie wirken sich diese Bedrohungen auf die Innenwelt der Menschen aus, welche inneren Konflikte, welche Beziehungskonflikte werden durch die realen Bedrohungen belebt? Wie und wo zeigen sie sich? Und wie ist mit ihnen umzugehen? Sind die Ängste, die sich durch die neuen Bedrohungen zeigen, vielleicht doch auch die alten Ängste, wenn auch in neuen Gewändern, mit denen wir in der Therapie schon immer umgegangen sind? Oder geht es um gänzlich neue? Und: Können wir einen Beitrag leisten zur Frage, wie man lernen kann, mit nicht zu kontrollierenden Unsicherheiten zu leben in einer posttraditionalen Gesellschaft?

Das sind die Fragen, die die diesjährigen Lindauer Therapiewochen aufwerfen.

Die Antworten, die ich dort im Kollegenkreis gefunden habe, werden in meine Arbeit einfließen.

Lindau im April 2013
Hanswerner Herber